„Flucht ohne Heimkehr“

Die NEUE SÜDTIROLER TAGESZEITUNG über das Buch von Siegfried Steger (2013)

Mit seiner Biografie „Flucht ohne Heimkehr“ hat Siegfried Steger erstmals eine authentische Gesamterzählung der Anschläge und bewaffneten Überfälle der „Puschtra Buibm“ vorgelegt. Auszüge aus dem Bestseller.

Tod eines Finanzers

Im Sommer 1956, da war ich noch nicht ganz 17, geschah jenes Unglück, das zum einschneidenden Ereignis in der Südtiroler Geschichte wurde. Die Geschichte mit den „Pfunderer Buam“ regte mich, meinen Bekanntenkreis, ja alle Leute im Dorf sehr auf. Am16.August 1956 wurde in Pfunders, dem kleinen Bergdorf am Eingang des Pustertales der Finanzer Raimondo Falqui mit schweren Kopfverletzungen in einem Bachbett liegend tot aufgefunden. Laut Bericht des untersuchenden Arztes war er schwer alkoholisiert gewesen. Soweit ist das Ereignis bekannt: Falqui hatte sich mit einem Kollegen am Abend des Hochunser-Frauentages im Dorfwirtshaus mit mehreren Burschen zunächst bestens unterhalten und mit diesen gefeiert. Als die Finanzer dann aber plötzlich die Sperrstunde anmahnten, kam es zu einer Streiterei. Laut Anklage haben die Burschen den Finanzer auf dem Heimweg bewusst totgeschlagen, es wurde wie ein gezielter politischer Mord ausgelegt und bestraft. Alles spricht aber dafür, dass es ein unglücklicher Unfall war und Falqui – viel- leicht nach einer harmlosen Rempelei – über den schmalen Steg stürzte, der über den Bach führte. Geländer gab es ja keines. Zu einem politischen Fall wurde das Unglück in den Tagen danach. Die Polizei forschte die trinkfreudige Runde aus und nahm die Burschen der Reihe nach fest, sie wurden sofort einvernommen. Da sie allesamt nicht Italienisch konnten und die Ermittler sich weigerten, Deutsch mit ihnen zu reden (sofern sie dies überhaupt gekonnt hätten), war es ein Leichtes, ihnen einen politisch motivierten Mord unterzuschieben. Sie wurden in schweren Ketten vor Gericht gestellt.

Die Tagesmedien in Europa berichteten über die willkürliche Vorgangsweise der Justiz. Mit 84 Jahren schwerer Kerkerstrafe erlangten die Pfunderer Buam traurige Berühmtheit. Die Stimmung, die ich im Dorf spürte und von der ich immer mehr ergriffen wurde, war nun noch aufgeheizter als vorher. Auch ich fühlte mich als Rechtloser in der eigenen Heimat. Leute mit einer fremden Sprache befahlen den Landsleuten, was sie zu tun und zu lassen hatten – das war unser Lebensgefühl. Und während wir aus Bozen hörten, dass immer mehr Italiener nach Südtirol zogen, überschlug sich die italienische Presse förmlich in Hasstiraden gegen die Südtiroler Bevölkerung und gegen Österreich. In diesem Umfeld wuchs bei mir und vielen Freunden das Gefühl, dass man sich das einfach nicht mehr gefallen lassen durfte. Ereignisse wie die Verhaftung von Friedl Volgger, dem Redakteur der „Dolomiten“ und des „Volksboten“, machten uns fassungslos. Wir bekamen mit, wie der Druckereiarbeiter Hans Stieler, der 1956 mit einigen Helfern die ersten Anschläge verübt hatte, verhaftet, vor Gericht gestellt und ins Gefängnis gesteckt wurde. Es herrschte, für junge Leute in Südtirol heute wohl kaum mehr nach- vollziehbar, ein düsteres Klima der Angst und des Zorns im Land. Ich kam durch meine Schlachtertätigkeit überall hin, zu den entlegensten Höfen.

Die Bauern nahmen sich kein Blatt vor den Mund, da wurde oft bis spät in die Nacht hinein diskutiert. Da fiel auch der eingangs erwähnte Ausruf: „Einen kleinen Andreas Hofer tät’s halt wieder brauchen!“ „Helden brauchen wir! Helden!“ Der Nachbar von uns, der Dorfschmied, kehrte auch regelmäßig bei uns ein. Eines Abends, er hatte wohl schon das ein oder andere Glas Wein getrunken, sprang er plötzlich auf, ließ sich auf die Knie fallen, hob die rußigen Fäuste zum Kruzifix empor und rief: „Helden brauchen wir! Helden!“ Mir fuhr es damals kalt über den Rücken. Ich sehe ihn heute noch vor mir, sein rußgeschwärztes Gesicht, seine aufgerissenen Augen. Es war plötzlich totenstill in der Stube. Das war für mich ein Schlüsselsatz, ja ein Auftrag! Der Satz hörte nicht auf in mir zu arbeiten: Wieso eigentlich nicht? Das wäre eine Befreiung vom Zähneknirschen. Die Fäuste aus dem Sack! Man würde sich nicht mehr so ohnmächtig, entrechtet, verspottet und versklavt fühlen! Die Aufregung und der Zorn waren rundum zu spüren. „Als Österreicher wäre das Sterben halt auch leichter als unter der italienischen Besatzung“, an diese Worte einer alten Bäuerin erinnere ich mich noch so, als würde ich sie jetzt hören. „Wenn das so weitergeht, immer mehr Italiener heraufkommen und wir nach und nach sterben, ist es vorbei mit Südtirol, die jungen Leute wandern ja heute schon alle aus, weil man ihnen hier die Arbeit verweigert“, meinte sie besorgt. Für mich war Gerechtigkeit eine Selbstverständlichkeit. So hatte ich in jungen Jahren zwei Dorfbewohner in unserer Wirtsstube beobachtet, wie sie beim Karten- spielen ständig schwindelten und den ohnehin armen Leuten das Geld ab- knöpften. Jahre später habe ich einen der beiden zur Rede gestellt. Als er sich auch noch lustig darüber machen wollte, konnte ich nicht anders, als ihn zu verprügeln. Solche infame Gaunereien und Unrecht jeder Art ließen mir schon in den Jugendjahren das „heiße“ Blut übergehen.

Es wird ernst: die Feuernacht

Am 11. Juni 1961 tauchte plötzlich ein mir Unbekannter in unserer Gastwirtschaft „Kohlgrube“ auf und fragte nach einem Steger Siegfried. Ich gab mich zu erkennen. Der Unbekannte nannte das mit Kurt Welser vereinbarte Losungswort, an das ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern kann. Aber damals war klar, dass dies der Mittelsmann von Welser ist, der uns den Tag des großen Schlags bekannt geben sollte. Kurz und bündig sagte er: „Männer, heute Nacht geht‘s los!“ Danach verließ er die Gastwirtschaft, stieß zu seinem Begleiter am Dorfplatz und fuhr ohne weiteren Kommentar wieder ab. Wie sich später herausstellen sollte, war der Unbekannte der Universitätsassistent Norbert Burger aus Innsbruck. Mir fehlten die Worte! Kurt Welser hatte angekündigt, dass der Auftrag mindestens drei Wochen vor einer geplanten Aktion erfolgen sollte. Nun musste innerhalb weniger Stunden gehandelt werden, ohne jegliche Vorbereitung. Sofort ging ich zum Forer Sepp, teilte ihm die Botschaft mit und machte mich ans Werk.

Heinrich Oberlechner – und noch einige andere – konnten wir gar nicht mehr erreichen, er war zum Herz-Jesu-Feuermachen aufgebrochen. So mussten wir unsere Pläne den Möglichkeiten anpassen. Sepp war eingeteilt, mit dem Höfler-Bauern Hans Oberlechner den Viadukt der Wasserleitung zum Kraftwerk in Au.ermühlwald zu sprengen, ich sollte mit Franz Ebner den vorgesehenen Strommasten sprengen. Mehr war nicht mehr möglich, dabei hatten wir uns viel mehr vorgenommen. Der Umstand, dass Herz- Jesu-Sonntag war, verschaffte uns wenigstens eine gute Deckung, wir konnten glaubhaft verkünden, dass wir mit unseren Rucksäcken aufbrachen, um Herz-Jesu-Feuer zu machen. Franz Ebner und ich gingen schweigend nebeneinander über die Wiesen unserem nicht allzu weit entfernten Ziel entgegen, einem schon länger ausgewählten Strommasten der Hochspannungsleitung hinter der Ahr. In meinem Rucksack trug ich 4 Kilo Plastiksprengstoff, 12 Meter Knallzündschnur, einen Glühzünder und eine Sprengkapsel. Es war seltsam: Da ging ich nun zu meinem ersten Sprengstoffanschlag. Ich spürte eine fremde Ruhe in mir. Ich funktionierte einfach. In Gedanken ging ich noch einmal den Ablauf der zu verrichtenden Arbeit durch. Immer wieder zählte ich die Reihenfolge der einzelnen Handgriffe durch. Es darf nichts schief gehen. Eine Unachtsamkeit, ein zu frühes Einlegen der Sprengkapsel würde, wenn die Uhr fehlerhaft war, zur vorzeitigen Explosion führen. Nein, nervös war ich nicht, ich wollte nur die Aktion so gewissenhaft wie möglich durchführen. In mir spürte ich eine ruhige Sicherheit. Aus gedeckter Position sondierten wir das Gelände rund um den Mast,wir bemerkten nichts Verdächtiges. Alles war still, es war Mitternacht. Als wir beim Mast waren, beobachtete Franz das Gelände, während ich jeweils ein Paket Sprengstoff in den Metallwinkel der Innenseite vom Mast drückte. Nachdem der Sprengstoff an allen vier Mastfü.en gut angedrückt war, holte ich die Knallzündschnur heraus, wickelte sie zweimal ums erste Paket, spannte sie zum zweiten Paket, wieder zweimal umwickeln, weiter zum dritten Paket, dieselbe Vorgangsweise beim vierten Paket.

Dann zwickte ich die Knallzündschnur ab. Nun nahm ich die präparierte Stoppuhr aus dem Rucksack, stellte sie auf 4 Uhr früh, schloss den Glühzünder an und führte mit ruhiger Hand die Sprengkapsel in den Glühzünder ein. Letzte Kontrolle, alles richtig, ich war zufrieden. Franz und ich machten uns wieder auf den Heimweg. Heute Nacht, so dachte ich, würde ich wohl wach liegen in meiner Kammer, um zu sehen und zu hören, wenn es krachte und der Mast stürzte. Ich war die Ruhe in Person gewesen, das stellten auch meine Kameraden öfters fest. Das war eine Eigenschaft, für die mir alle sehr dankbar waren, und ich mir am meisten. Warum sollte ich nervös sein? Ich war immer gewissenhaft vorbereitet und wusste was zu tun war. Für meine Kameraden war das unerklärlich, wie ich ohne jede Hast und Aufregung meine Anschläge durchführte, sie meinten, ich hätte Fischblut in den Adern. Zu Hause ging ich in meine Kammer und wartete. Von meinem Fenster aus konnte ich in der Ferne genau dahin sehen, wo ich wusste, dass unser Mast stand. Um Punkt vier Uhr schoss an dieser Stelle eine grelle Stichflamme empor, ich wusste, der Mast war gefallen. Es war eine unbeschreibliche Erleichterung und eine Freude für mich, dass es so gut gegangen war.

In dieser Nacht fielen landesweit 37 Strommasten, es hätten einige mehr sein müssen: Die Lahmlegung der Hochöfen in der Bozner Industriezone gelang leider nicht, weil einige entscheidende Masten zu wenig umstürzten. Auch mein Freund Sepp Forer, der mit dem Höfler-Bauern unterwegs war, hatte mit dem Viadukt weniger Glück als ich. Er legte die Sprengladung wie vereinbart in die Sprengkammern der Träger und legte die Zündung am Grund des Viadukts aus. Unweit davon wurde, wie bei allen Attentatszielen, ein Paket Flugblätter abgelegt, schließlich wollten wir ja mit den Attentaten eine Botschaft an die Politik verbinden. Die Sprengladung explodierte aber nicht. Für diesen Ausfall schien uns eine Erklärung durchaus möglich: Die Anschläge waren landesweit ab 1 Uhr erfolgt, in immer neuen Schüben. Dadurch aufgeschreckt könnten die Behörden sicherheitshalber das Wasser von der Leitung in den Bach umgeleitet haben, der dadurch steigende Wasserpegel hätte auf jeden Fall den Zünder zerstört. In einigen Fällen war es aber auch passiert, dass die Zeituhren nicht einwandfrei funktionierten. Am nächsten Morgen führten die ausgelegten Flugblätter die Carabinieri praktisch zur Sprengladung. Schade, sonst hätte unsere Gruppe den Anschlag in der Nacht darauf wiederholen können – ich allerdings wohl nicht mehr.


Der Bestseller

Das Buch „Die Puschtra Buibm – Flucht ohne Heimkehr“ von Siegfried Steger war der absolute Weihnachts-Renner im Südtiroler Buchhandel: Am 6. Dezember 2013 auf den Markt gekommen, war das im Verlag „edition arob“ erschienene Buch in nur zwei Wochen ausverkauft. Die zweite Auflage ist bereits in Druck – und erscheint am 7. Jänner 2014.

Die Puschtra Buibm

edition AROB

In diesem Buch schildert Siegfried Steger den Kampf der „Puschtra Buibm“ gegen den Staat Italien, schonungslos und ohne Beschönigung, eine atemberaubende Geschichte, die sich wie ein Roman liest, aber Wirklichkeit ist: von 1961 bis 1967 hält die Kampfgruppe ihren Guerillakampf durch, kann sich trotz Rasterfahndungen und militärischem Großaufgebot immer wieder der Verhaftung entziehen, versteckt sich über Wochen in Erd- und Felsbunkern, schlägt wieder zu und flieht zurück über die Berge.
Mit einem Vorwort von Hans Karl Peterlini.

ISBN 978-88-88396-16-3
274 Seiten
Preis Italien: Euro 26,90
Preis Ausland (D-A-CH): Euro 27,90

„Flucht ohne Heimkehr“

Die NEUE SÜDTIROLER TAGESZEITUNG über das Buch von Siegfried Steger (2013)

Mit seiner Biografie „Flucht ohne Heimkehr“ hat Siegfried Steger erstmals eine authentische Gesamterzählung der Anschläge und bewaffneten Überfälle der „Puschtra Buibm“ vorgelegt. Auszüge aus dem Bestseller.

Tod eines Finanzers

Im Sommer 1956, da war ich noch nicht ganz 17, geschah jenes Unglück, das zum einschneidenden Ereignis in der Südtiroler Geschichte wurde. Die Geschichte mit den „Pfunderer Buam“ regte mich, meinen Bekanntenkreis, ja alle Leute im Dorf sehr auf. Am16.August 1956 wurde in Pfunders, dem kleinen Bergdorf am Eingang des Pustertales der Finanzer Raimondo Falqui mit schweren Kopfverletzungen in einem Bachbett liegend tot aufgefunden. Laut Bericht des untersuchenden Arztes war er schwer alkoholisiert gewesen. Soweit ist das Ereignis bekannt: Falqui hatte sich mit einem Kollegen am Abend des Hochunser-Frauentages im Dorfwirtshaus mit mehreren Burschen zunächst bestens unterhalten und mit diesen gefeiert. Als die Finanzer dann aber plötzlich die Sperrstunde anmahnten, kam es zu einer Streiterei. Laut Anklage haben die Burschen den Finanzer auf dem Heimweg bewusst totgeschlagen, es wurde wie ein gezielter politischer Mord ausgelegt und bestraft. Alles spricht aber dafür, dass es ein unglücklicher Unfall war und Falqui – viel- leicht nach einer harmlosen Rempelei – über den schmalen Steg stürzte, der über den Bach führte. Geländer gab es ja keines. Zu einem politischen Fall wurde das Unglück in den Tagen danach. Die Polizei forschte die trinkfreudige Runde aus und nahm die Burschen der Reihe nach fest, sie wurden sofort einvernommen. Da sie allesamt nicht Italienisch konnten und die Ermittler sich weigerten, Deutsch mit ihnen zu reden (sofern sie dies überhaupt gekonnt hätten), war es ein Leichtes, ihnen einen politisch motivierten Mord unterzuschieben. Sie wurden in schweren Ketten vor Gericht gestellt.

Die Tagesmedien in Europa berichteten über die willkürliche Vorgangsweise der Justiz. Mit 84 Jahren schwerer Kerkerstrafe erlangten die Pfunderer Buam traurige Berühmtheit. Die Stimmung, die ich im Dorf spürte und von der ich immer mehr ergriffen wurde, war nun noch aufgeheizter als vorher. Auch ich fühlte mich als Rechtloser in der eigenen Heimat. Leute mit einer fremden Sprache befahlen den Landsleuten, was sie zu tun und zu lassen hatten – das war unser Lebensgefühl. Und während wir aus Bozen hörten, dass immer mehr Italiener nach Südtirol zogen, überschlug sich die italienische Presse förmlich in Hasstiraden gegen die Südtiroler Bevölkerung und gegen Österreich. In diesem Umfeld wuchs bei mir und vielen Freunden das Gefühl, dass man sich das einfach nicht mehr gefallen lassen durfte. Ereignisse wie die Verhaftung von Friedl Volgger, dem Redakteur der „Dolomiten“ und des „Volksboten“, machten uns fassungslos. Wir bekamen mit, wie der Druckereiarbeiter Hans Stieler, der 1956 mit einigen Helfern die ersten Anschläge verübt hatte, verhaftet, vor Gericht gestellt und ins Gefängnis gesteckt wurde. Es herrschte, für junge Leute in Südtirol heute wohl kaum mehr nach- vollziehbar, ein düsteres Klima der Angst und des Zorns im Land. Ich kam durch meine Schlachtertätigkeit überall hin, zu den entlegensten Höfen.

Die Bauern nahmen sich kein Blatt vor den Mund, da wurde oft bis spät in die Nacht hinein diskutiert. Da fiel auch der eingangs erwähnte Ausruf: „Einen kleinen Andreas Hofer tät’s halt wieder brauchen!“ „Helden brauchen wir! Helden!“ Der Nachbar von uns, der Dorfschmied, kehrte auch regelmäßig bei uns ein. Eines Abends, er hatte wohl schon das ein oder andere Glas Wein getrunken, sprang er plötzlich auf, ließ sich auf die Knie fallen, hob die rußigen Fäuste zum Kruzifix empor und rief: „Helden brauchen wir! Helden!“ Mir fuhr es damals kalt über den Rücken. Ich sehe ihn heute noch vor mir, sein rußgeschwärztes Gesicht, seine aufgerissenen Augen. Es war plötzlich totenstill in der Stube. Das war für mich ein Schlüsselsatz, ja ein Auftrag! Der Satz hörte nicht auf in mir zu arbeiten: Wieso eigentlich nicht? Das wäre eine Befreiung vom Zähneknirschen. Die Fäuste aus dem Sack! Man würde sich nicht mehr so ohnmächtig, entrechtet, verspottet und versklavt fühlen! Die Aufregung und der Zorn waren rundum zu spüren. „Als Österreicher wäre das Sterben halt auch leichter als unter der italienischen Besatzung“, an diese Worte einer alten Bäuerin erinnere ich mich noch so, als würde ich sie jetzt hören. „Wenn das so weitergeht, immer mehr Italiener heraufkommen und wir nach und nach sterben, ist es vorbei mit Südtirol, die jungen Leute wandern ja heute schon alle aus, weil man ihnen hier die Arbeit verweigert“, meinte sie besorgt. Für mich war Gerechtigkeit eine Selbstverständlichkeit. So hatte ich in jungen Jahren zwei Dorfbewohner in unserer Wirtsstube beobachtet, wie sie beim Karten- spielen ständig schwindelten und den ohnehin armen Leuten das Geld ab- knöpften. Jahre später habe ich einen der beiden zur Rede gestellt. Als er sich auch noch lustig darüber machen wollte, konnte ich nicht anders, als ihn zu verprügeln. Solche infame Gaunereien und Unrecht jeder Art ließen mir schon in den Jugendjahren das „heiße“ Blut übergehen.

Es wird ernst: die Feuernacht

Am 11. Juni 1961 tauchte plötzlich ein mir Unbekannter in unserer Gastwirtschaft „Kohlgrube“ auf und fragte nach einem Steger Siegfried. Ich gab mich zu erkennen. Der Unbekannte nannte das mit Kurt Welser vereinbarte Losungswort, an das ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern kann. Aber damals war klar, dass dies der Mittelsmann von Welser ist, der uns den Tag des großen Schlags bekannt geben sollte. Kurz und bündig sagte er: „Männer, heute Nacht geht‘s los!“ Danach verließ er die Gastwirtschaft, stieß zu seinem Begleiter am Dorfplatz und fuhr ohne weiteren Kommentar wieder ab. Wie sich später herausstellen sollte, war der Unbekannte der Universitätsassistent Norbert Burger aus Innsbruck. Mir fehlten die Worte! Kurt Welser hatte angekündigt, dass der Auftrag mindestens drei Wochen vor einer geplanten Aktion erfolgen sollte. Nun musste innerhalb weniger Stunden gehandelt werden, ohne jegliche Vorbereitung. Sofort ging ich zum Forer Sepp, teilte ihm die Botschaft mit und machte mich ans Werk.

Heinrich Oberlechner – und noch einige andere – konnten wir gar nicht mehr erreichen, er war zum Herz-Jesu-Feuermachen aufgebrochen. So mussten wir unsere Pläne den Möglichkeiten anpassen. Sepp war eingeteilt, mit dem Höfler-Bauern Hans Oberlechner den Viadukt der Wasserleitung zum Kraftwerk in Au.ermühlwald zu sprengen, ich sollte mit Franz Ebner den vorgesehenen Strommasten sprengen. Mehr war nicht mehr möglich, dabei hatten wir uns viel mehr vorgenommen. Der Umstand, dass Herz- Jesu-Sonntag war, verschaffte uns wenigstens eine gute Deckung, wir konnten glaubhaft verkünden, dass wir mit unseren Rucksäcken aufbrachen, um Herz-Jesu-Feuer zu machen. Franz Ebner und ich gingen schweigend nebeneinander über die Wiesen unserem nicht allzu weit entfernten Ziel entgegen, einem schon länger ausgewählten Strommasten der Hochspannungsleitung hinter der Ahr. In meinem Rucksack trug ich 4 Kilo Plastiksprengstoff, 12 Meter Knallzündschnur, einen Glühzünder und eine Sprengkapsel. Es war seltsam: Da ging ich nun zu meinem ersten Sprengstoffanschlag. Ich spürte eine fremde Ruhe in mir. Ich funktionierte einfach. In Gedanken ging ich noch einmal den Ablauf der zu verrichtenden Arbeit durch. Immer wieder zählte ich die Reihenfolge der einzelnen Handgriffe durch. Es darf nichts schief gehen. Eine Unachtsamkeit, ein zu frühes Einlegen der Sprengkapsel würde, wenn die Uhr fehlerhaft war, zur vorzeitigen Explosion führen. Nein, nervös war ich nicht, ich wollte nur die Aktion so gewissenhaft wie möglich durchführen. In mir spürte ich eine ruhige Sicherheit. Aus gedeckter Position sondierten wir das Gelände rund um den Mast,wir bemerkten nichts Verdächtiges. Alles war still, es war Mitternacht. Als wir beim Mast waren, beobachtete Franz das Gelände, während ich jeweils ein Paket Sprengstoff in den Metallwinkel der Innenseite vom Mast drückte. Nachdem der Sprengstoff an allen vier Mastfü.en gut angedrückt war, holte ich die Knallzündschnur heraus, wickelte sie zweimal ums erste Paket, spannte sie zum zweiten Paket, wieder zweimal umwickeln, weiter zum dritten Paket, dieselbe Vorgangsweise beim vierten Paket.

Dann zwickte ich die Knallzündschnur ab. Nun nahm ich die präparierte Stoppuhr aus dem Rucksack, stellte sie auf 4 Uhr früh, schloss den Glühzünder an und führte mit ruhiger Hand die Sprengkapsel in den Glühzünder ein. Letzte Kontrolle, alles richtig, ich war zufrieden. Franz und ich machten uns wieder auf den Heimweg. Heute Nacht, so dachte ich, würde ich wohl wach liegen in meiner Kammer, um zu sehen und zu hören, wenn es krachte und der Mast stürzte. Ich war die Ruhe in Person gewesen, das stellten auch meine Kameraden öfters fest. Das war eine Eigenschaft, für die mir alle sehr dankbar waren, und ich mir am meisten. Warum sollte ich nervös sein? Ich war immer gewissenhaft vorbereitet und wusste was zu tun war. Für meine Kameraden war das unerklärlich, wie ich ohne jede Hast und Aufregung meine Anschläge durchführte, sie meinten, ich hätte Fischblut in den Adern. Zu Hause ging ich in meine Kammer und wartete. Von meinem Fenster aus konnte ich in der Ferne genau dahin sehen, wo ich wusste, dass unser Mast stand. Um Punkt vier Uhr schoss an dieser Stelle eine grelle Stichflamme empor, ich wusste, der Mast war gefallen. Es war eine unbeschreibliche Erleichterung und eine Freude für mich, dass es so gut gegangen war.

In dieser Nacht fielen landesweit 37 Strommasten, es hätten einige mehr sein müssen: Die Lahmlegung der Hochöfen in der Bozner Industriezone gelang leider nicht, weil einige entscheidende Masten zu wenig umstürzten. Auch mein Freund Sepp Forer, der mit dem Höfler-Bauern unterwegs war, hatte mit dem Viadukt weniger Glück als ich. Er legte die Sprengladung wie vereinbart in die Sprengkammern der Träger und legte die Zündung am Grund des Viadukts aus. Unweit davon wurde, wie bei allen Attentatszielen, ein Paket Flugblätter abgelegt, schließlich wollten wir ja mit den Attentaten eine Botschaft an die Politik verbinden. Die Sprengladung explodierte aber nicht. Für diesen Ausfall schien uns eine Erklärung durchaus möglich: Die Anschläge waren landesweit ab 1 Uhr erfolgt, in immer neuen Schüben. Dadurch aufgeschreckt könnten die Behörden sicherheitshalber das Wasser von der Leitung in den Bach umgeleitet haben, der dadurch steigende Wasserpegel hätte auf jeden Fall den Zünder zerstört. In einigen Fällen war es aber auch passiert, dass die Zeituhren nicht einwandfrei funktionierten. Am nächsten Morgen führten die ausgelegten Flugblätter die Carabinieri praktisch zur Sprengladung. Schade, sonst hätte unsere Gruppe den Anschlag in der Nacht darauf wiederholen können – ich allerdings wohl nicht mehr.


Der Bestseller

Das Buch „Die Puschtra Buibm – Flucht ohne Heimkehr“ von Siegfried Steger war der absolute Weihnachts-Renner im Südtiroler Buchhandel: Am 6. Dezember 2013 auf den Markt gekommen, war das im Verlag „edition arob“ erschienene Buch in nur zwei Wochen ausverkauft. Die zweite Auflage ist bereits in Druck – und erscheint am 7. Jänner 2014.

Die Puschtra Buibm

edition AROB

In diesem Buch schildert Siegfried Steger den Kampf der „Puschtra Buibm“ gegen den Staat Italien, schonungslos und ohne Beschönigung, eine atemberaubende Geschichte, die sich wie ein Roman liest, aber Wirklichkeit ist: von 1961 bis 1967 hält die Kampfgruppe ihren Guerillakampf durch, kann sich trotz Rasterfahndungen und militärischem Großaufgebot immer wieder der Verhaftung entziehen, versteckt sich über Wochen in Erd- und Felsbunkern, schlägt wieder zu und flieht zurück über die Berge.
Mit einem Vorwort von Hans Karl Peterlini.

ISBN 978-88-88396-16-3
274 Seiten
Preis Italien: Euro 26,90
Preis Ausland (D-A-CH): Euro 27,90

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